Ursula Staudinger hält Leitvortrag auf ROSA Symposium in Singapur

Am 30. November 2021 veranstaltete das „Centre for Research on Successful Ageing“ (ROSA) der „Singapore Management University“ (SMU) sein erstes jährliches Symposium. Ursula Staudinger wurde eingeladen, den Hauptvortrag zu halten und an der Podiumsdiskussion teilzunehmen. Aufgrund der unsicheren Entwicklungen rund um die Omicron-Variante konnte sie nicht nach Singapur reisen, sondern nahm online teil.

Das Thema der Veranstaltung lautete „Neuanfänge – älteren Erwachsenen ermöglichen, in der endemischen Phase zu gedeihen“. Der Übergang in eine neue Phase der globalen Pandemie führt auch in Singapur zu großer Unsicherheit in der Bevölkerung darüber, was die Zukunft bringt. Das Land hat eine rasch alternde Bevölkerung und viele ältere Erwachsene hatten bisher Schwierigkeiten, die Pandemie zu bewältigen. Daher bedarf es eines proaktiven Ansatzes zur Gestaltung der Zukunft zum Wohle der Gesellschaft.

Ursula Staudinger hält den Leitvortrag auf dem ROSA Symposium

Mehr gesunde Jahre

In ihrem Leitvortrag betonte Staudinger, dass es eine Ehre für sie sei, mit ROSA verbunden zu sein. Sie freue sich darüber, dass sie über mehrere Jahre zur Entwicklung des „Singapore Life Panels“ beitragen konnte. „Für mich war Singapur schon immer eine vorbildliche Gemeinschaft und Nation darin, wie man das Altern angeht und wie man es optimiert“, sagte sie.

Staudinger teilte ihre neuesten Forschungsergebnisse mit den Teilnehmenden in ihrem Vortrag „The Positive Plasticity-Paradigm: Re-Thinking Human Aging“. „Im Hinblick auf die durchschnittliche Lebenserwartung kann menschliches Altern noch weiter optimiert werden, wenn wir die Maßnahmen im Bereich der öffentlichen Gesundheit verbessern“, stellte sie fest. „Und wir sprechen nicht nur von mehr Jahren, sondern von gesünderen Jahren.“ Staudinger erwähnte jedoch auch, dass es je nach sozioökonomischen Bedingungen große Unterschiede in Bezug auf die Zugewinne an Lebenserwartung innerhalb der Länder gebe. „Das zeigt uns, wie modifizierbar das menschliche Altern ist.“

Gesellschaftliches Umfeld ist entscheidend

„Das Altern des Menschen ist nicht vorherbestimmt“, so Staudinger weiter. „Vielmehr handelt es sich um ein sehr komplexes, mehrstufiges dynamisches System.“ Um das menschliche Altern zu verstehen, müsse man die drei Komponenten „Organismus“, „Person“ und „Kontext“ untersuchen. Diese drei Faktoren interagieren miteinander und beeinflussen den Alterungsprozess. „Das gesellschaftliche Umfeld, das wir gemeinsam schaffen, hat einen massiven Einfluss darauf, wie wir altern“, betonte sie. Anders als allgemein angenommen, beeinflusst die Genetik das Altern hingegen nur um etwa 20 Prozent.

Laut Staudingers Forschungen ist die Interaktion zwischen jüngeren und älteren Erwachsenen ein wichtiger Motivationsverstärker, der beispielsweise die Gehirnfunktion erhöht. Wenn Menschen älter werden, geben sie ihre Erfahrungen gerne an die jüngere Generation weiter. Daher sollten auch Gesellschaften des längeren Lebens und insbesondere Arbeitgeber entsprechende Rahmenbedingungen schaffen. Dabei sei jedoch entscheidend, dass sich ältere Erwachsene in einer generationenübergreifenden Arbeitsumgebung geschätzt und nicht gehemmt oder gar „veraltet“ fühlen. Denn dies hätte eine demotivierende Wirkung.

„Leider ist die COVID-19-Pandemie ein Faktor, der das menschliche Altern destabilisiert“, sagte Staudinger. „Die Pandemie ist nicht nur ein großes Risiko für die körperliche Gesundheit der Menschen, sondern beeinflusst auch unsere gesellschaftliche Struktur und führt zur Isolation, insbesondere der Älteren in unserer Gesellschaft.“ Wenn es älteren Menschen an sozialen Impulsen, emotionaler Unterstützung und körperlichem Kontakt mangelt, ist ihr Wohlbefinden und ihr Überleben gefährdet. Daher sollte man bei der Bewältigung der Pandemie dieser letzten Lebensphase besondere Aufmerksamkeit schenken. Denn sie wird wahrscheinlich nicht so schnell vorbei sein.

Ältere Erwachsene empfinden heutzutage mehr Zeitdruck

Eine neue Studie eines internationalen Forscherteams um Ursula Staudinger zeigt, dass sich ältere Menschen heute mehr gehetzt fühlen als noch vor 25 Jahren. Durch Wirtschaftswachstum und Modernisierung hat der wahrgenommene Zeitdruck zugenommen – ein Phänomen, das als „Social Acceleration“ (soziale Beschleunigung) bekannt ist. Bisher wurde dies vor allem bei jungen Erwachsenen und solchen mittleren Alters, die noch erwerbstätig sind, untersucht. Doch die neue Studie macht deutlich, dass dies auch bei Erwachsenen in ihren 70ern und 80ern der Fall ist.

Warum Zeitwahrnehmung wichtig ist

Wie man Zeit erlebt, hat Auswirkungen auf die Gesundheit und das Wohlbefinden. Die zehn Co-Autor:innen wollten deshalb herausfinden, ob sich sozialgeschichtliche Veränderungen der Zeitwahrnehmung auch bis ins hohe Alter erstrecken. Sie betrachteten zwei Dimensionen der Zeitwahrnehmung: die subjektive „Geschwindigkeit der Zeit“ und den wahrgenommenen „Zeitdruck“. Bei der „Geschwindigkeit der Zeit“ handelt es sich um das wahrgenommene Tempo, mit dem die Zeit im Alltag abläuft. „Zeitdruck“ hingegen kann als das Gefühl verstanden werden, dass die Zeit, die für die Erledigung notwendiger Dinge zur Verfügung steht, knapp wird.

Zeitdruck kann nach bisheriger Forschung zu einer schlechteren körperlichen Gesundheit, Erschöpfungsgefühl, erhöhtem Blutdruck oder depressiven Symptomen führen. Bisher lag der Fokus jedoch vor allem auf Erwachsenen jungen und mittleren Alters im Arbeitskontext. „Es ist wichtig, die Auswirkungen auf die gesamte Lebensspanne zu berücksichtigen“, sagt Staudinger. „Menschen hören nicht auf, Teil der Gesellschaft zu sein, wenn sie in Rente gehen. Und sie haben noch viel Lebenszeit zur Verfügung.“

Nicht nur Erwerbstätige, sondern auch Rentner stehen unter zunehmenden Zeitdruck

Die Berliner Altersstudien

Um mehr über die Folgen für ältere Erwachsene herauszufinden, nutzten die Forschenden Daten aus angepassten Stichproben, die aus der Berliner Altersstudie Anfang der 1990er Jahre und der Berliner Altersstudie-II Mitte der 2010er Jahre gezogen wurden. Die sich rasant entwickelnde Metropolregion Berlin bietet einen idealen Rahmen für die Erforschung der sozialen Beschleunigung, da sie in den letzten 30 Jahren außerordentliche sozioökonomische und politische Veränderungen erfahren hat.

Was das Forschungsteam herausgefunden hat, ist, dass die später geborenen älteren Erwachsenen in den 1990er Jahren über mehr Zeitdruck berichteten als ihre gleichaltrigen Altersgenossen. Auf der anderen Seite unterschied sich die wahrgenommene Geschwindigkeit der Zeit nicht signifikant zwischen den Kohorten, obwohl die Wahrnehmungen früher geborener älterer Erwachsener unterschiedlicher waren.

Mögliche Erklärungen für erhöhten Zeitdruck

„Unsere Untersuchungen zeigen, dass die gesellschaftliche Beschleunigung auch ältere Menschen betrifft, die längst nicht mehr erwerbstätig sind“, berichtet Staudinger. Eine von den Autor:innen vorgeschlagene Erklärung ist der sogenannte „Bucket-List-Effekt“, der sich auf einen jüngeren historischen Trend bezieht, dass ältere Erwachsene mehr freizeitbezogene und soziale Ziele verfolgen, die sie im mittleren Erwachsenenalter aufgeschoben hatten. Darüber hinaus verbringen die älteren Erwachsenen von heute mehr Zeit mit Freiwilligenarbeit als ihre früheren Altersgenossen.

„Wir brauchen definitiv mehr Forschung in diese Richtung, um diese Faktoren sowie andere mögliche Ursachen, die zu einem erhöhten Zeitdruck bei älteren Menschen führen, besser zu verstehen“, betont Staudinger. „Mit der Anpassung des gesetzlichen Rentenalters in Deutschland wird die Zahl älterer Erwerbstätiger zunehmen. Daher könnten diese Fragen zu beschleunigenden Trends entscheidende Relevanz erlangen.“

Die neue Studie:

Sociohistorical Change in Urban Older Adults’ Perceived Speed of Time and Time Pressure

Arbeit ist wichtig: Warum Lernen am Arbeitsplatz gesundes Altern fördert

Wie sich die Art der Arbeit auf den Alterungsprozess des Menschen im Laufe seines Lebens auswirkt, hat bisher wenig Beachtung gefunden. Ein kürzlich veröffentlichter Artikel im Wissenschaftsmagazin „Psychology and Aging“ von Ursula Staudinger, Yan-Liang Yu und Bin Cheng beleuchtet das Zusammenspiel von Arbeitsbedingungen und der Erwachsenenentwicklung. Die Autoren fanden heraus, dass die Verarbeitung von Neuheiten bei der Arbeit über einen längeren Zeitraum den Abbau kognitiver Leistungsfähigkeiten abschwächt. Ihre Ergebnisse tragen dazu bei, Arbeit so zu gestalten, dass sie auch die kognitive Gesundheit von Arbeitnehmern fördert.

Es ist bereits bekannt, dass Menschen in Berufen mit höherer Komplexität (z.B. Ingenieure, Manager, Architekten) im Allgemeinen eine bessere kognitive Leistung, einen langsameren kognitiven Abbau und ein geringeres Risiko für die Entwicklung einer Demenz (z.B. Alzheimer) im späteren Leben aufweisen. „Wir wollten mehr über die zugrunde liegenden Mechanismen der Jobkomplexität erfahren“, sagt Staudinger. „Und darüber hinaus, was dies für Arbeitnehmer in weniger komplexen Berufen wie Lkw-Fahrer, Reinigungskräfte oder Bäcker bedeutet.“

Man lernt nie aus

Durch die Anwendung von mehrstufigen Übergangsmodellen stellten Staudinger und ihre Co-Autoren fest, dass die Verarbeitung von Neuheiten bei der Arbeit ein Merkmal ist, das mit der Komplexität des Jobs (sowohl in Bezug auf Daten als auch auf Personen) zusammenhängt und daher möglicherweise einige der Mechanismen aufzeigt, die für die schützende Wirkung auf das kognitive Altern verantwortlich sind. „Es wirkt sich nicht nur unterstützendend auf die mentale Stimulation aus, sondern kann auch auf weniger komplexe Aufgaben angewendet werden“, erklärt Staudinger. „Daher können auch weniger kognitiv fähige Arbeitskräfte und geringer Gebildete von ihren Schutzeigenschaften profitieren.“

Abwechslung im Job ist gut für die kognitive Entwicklung

Die Informationsverarbeitung von Neuheiten tritt normalerweise auf, wenn sich eine Lücke zwischen dem, was wir gewohnt sind, und dem, was eine bestimmte neue Arbeitsaufgabe erfordert, auftut. Wenn wir diese Lücke überbrücken, findet ein Lernprozess statt. Menschen, die in Jobs arbeiten, die eine stärkere Verarbeitung von Neuheiten erfordern (z.B. durch neue Informationen oder das Auftreten ungewohnter Situationen), entwickeln wahrscheinlich bessere kognitive Leistungsfähigkeiten als solche in Jobs mit weniger Veränderungen.

Daten von über 4.000 Personen

„Wir haben Daten von mehr als 4.000 Personen über einen Zeitraum von 14 Jahren untersucht“, sagt Staudinger. Dazu gehörten Daten aus einer Gesundheits- und Rentenstudie sowie detailliertere Informationen zu Berufsmerkmalen aus der kostenlosen Online-Datenbank Occupational Information Network (O*Net) der USA. „Wir haben festgestellt, dass die Verarbeitung von Neuheiten insbesondere die kognitive Beeinträchtigung der exekutiven Gehirnfunktion und des episodischen Gedächtnisses verlangsamte – zwei Bereiche, die normalerweise einen starken altersbedingten Abbau aufweisen.“ Ihre Studie befasste sich nicht nur mit bezahlter Arbeit, sondern berücksichtigte auch Freizeit- und Freiwilligentätigkeiten.

Laut Staudinger unterstreichen die Studienergebnisse, wie wichtig die Förderung von lebenslangem Lernen ist. „Während Jobs mit höherer Komplexität Vorteile für das kognitive Altern bringen, dürfen wir sozial benachteiligte Personen in weniger komplexen Jobs, bei denen ein höheres Risiko für kognitive Beeinträchtigungen besteht, nicht übersehen“, sagt sie. „Deshalb sind arbeitsbezogene Aktivitäten, die Lernprozesse beinhalten, so wichtig.“ Staudinger ist davon überzeugt, dass die Einführung von Neuheiten (z.B. durch gelegentliche Änderungen von Arbeitsaufgaben) in den meisten Berufen möglich ist: „Einfache Maßnahmen können problemlos in den täglichen Arbeitsabläufen implementiert werden. Sie sind ein wesentlicher Baustein für die Stärkung von Gesellschaften des längeren Lebens.“

Mehr zum Thema: Menschliches Altern neu denken

Zukunfsreport Wissenschaft: Altern und Lebensverlauf in Deutschland

Am 16. Dezember stellte Ursula M. Staudinger, Sprecherin der Leopoldina-Kommission Demografischer Wandel, gemeinsam mit weiteren Autor*innen den Zukunftsreport Wissenschaft „Altern und Lebensverlauf: Forschung für die gewonnen Jahre“ vor. Über mehrere Jahre arbeiteten sieben führende Wissenschaftler*innen verschiedener Alternsdisziplinen gemeinsam unter Staudingers Federführung an dem Zukunftsreport. Dieser widmet sich der Leitfrage: Welche Forschung kann uns helfen, die Herausforderungen des längeren Lebens und des demografischen Wandels gut zu bewältigen?

„Der demografische Wandel ist neben dem Klimawandel eine der zentralen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts“, betonte Staudinger auf der Online-Veranstaltung Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina mit rund 100 Teilnehmenden in ihrem Eröffnungsstatement. Die durchschnittliche Lebenserwartung hat im Verlauf der letzten 150 Jahre um rund 40 Jahre zugenommen. Darüber hinaus sind die Lebensverläufe vielfältiger geworden. Diese Entwicklungen tragen dazu bei, dass das Wissenschaftsfeld der Alterns- und Lebensverlaufsforschung deutlich an Bedeutung gewonnen hat. Dabei gilt es, die „gewonnenen Jahre“ so zu gestalten, dass Lebensqualität, Produktivität und Innovationsfähigkeit einer Gesellschaft des längeren Lebens erhalten bleiben und weiterentwickelt werden.

Deutschland hat Aufholbedarf

Die Erhöhung der durchschnittlichen Lebenserwartung ist eine Errungenschaft soziokultureller Entwicklung. Menschen haben die Fähigkeit – im Gegensatz zu anderen Arten – ihre eigene Entwicklung und den Alternsprozess zu verändern. Menschliches Altern ist also nicht nur biologisch beeinflusst. Vielmehr entsteht der Alternsprozess aus der kontinuierlichen Wechselwirkung zwischen Biologie, individuellen Entscheidungen und Lebensstilen, sowie soziokulturellem Kontext. Das von Staudinger entwickelte biopsychosoziale Modell veranschaulicht das Zusammenspiel von Kontext, Person und Organismus.

Ursula M. Staudinger bei der Online-Vorstellung des Zukunftsreports

Diese Erkenntnis unterstreicht auch die Notwendigkeit interdisziplinärer Forschung, die Befunde aus einzelnen Disziplinen zusammenführt, um eine erfolgreiche Gestaltung des demografischen Wandels zu ermöglichen. Laut Zukunftsreport bleibt Deutschland trotz umfangreicher Forschung gegenwärtig noch hinter ihren Möglichkeiten zurück und schneidet im Vergleich mit anderen Ländern wie Frankreich, Niederlande, USA oder Großbritannien schlecht ab.

Interdisziplinäre Forschung gefragt

Die Autor*innen des Zukunftsreports weisen darauf hin, dass die in Deutschland vorherrschende Förderthemen der Alternsforschung Krankheiten und deren molekulare Grundlagen sowie Pflege und technische Assistenzsysteme im Alter sind. Um jedoch wesentliche Forschungsfragen beantworten zu können, müssen andere Forschungsbereiche stärker berücksichtigt und bei geförderten Projekten alle relevanten Disziplinen einbezogen werden. „Das Einbeziehen darf nicht bei einem Nebeneinander der Disziplinen stehen bleiben, sondern muss den Schritt hin zu einem gleichberechtigten Miteinander tun, um den Erkenntnisfortschritt in der Alterns- und Lebensverlaufsforschung auf die nächste Stufe zu heben“, sagte Staudinger. „Bisher fehlte der Wille zu einer breit aufgestellten Alternsforschungsagenda.“  

Auch sind in der deutschen Alterns- und Lebensverlaufsforschung Sozial-, Verhaltens- und Geisteswissenschaften deutlich weniger vertreten als beispielsweise in Großbritannien, Schweden oder den Niederlanden. Eine strategische und programmatische Förderung in Form von Zentren, Programmen, Forschungsinfrastruktur und Weiterbildungsmaßnahmen ist für einer Interdisziplinarität von hoher Bedeutung. Die Autor*innen des Reports sprachen sich für einen Kompetenz-Verbund – aufbauend auf bereits bestehenden Zentren – mit einer zentralen Koordinierungsstelle aus und wünschten sich von der Politik positive Signale für eine nationale Forschungsstrategie im Bereich der Alterns- und Lebensverlaufsforschung.

Corona als Verstärker

Ergänzend zu dem Zukunftsreport wurden in einer Extra-Beilage Herausforderungen identifiziert, die sich aus der Coronavirus-Pandemie für die Alterns‐ und Lebensverlaufsforschung ergeben. Die Pandemie hat sowohl Stärken als auch Schwächen des Gesundheitssystems offenbart und bereits im Zukunftsreport erwähnte Themenfelder weiter verstärkt. So sind Menschen mit Vorerkrankungen, die im Alter häufiger vorkommen, beispielsweise einem höheren Sterblichkeitsrisiko ausgesetzt. Die Autor*innen betonen, dass die Herausforderungen der Gesellschaft durch demografischen Wandel, Klimawandel und aktuell COVID-19 in Zukunft stärker im Zusammenhang gesehen und noch entschiedener angegangen werden müssen.

Der Zukunftsreport wurde vorgestellt durch:

  • Ursula M. Staudinger ML, Technische Universität Dresden (Federführung)
  • Gerd Kempermann, Deutsches Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) Dresden und Forschungszentrum für Regenerative Therapien Dresden (CRTD), Technische Universität Dresden (Federführung)
  • Karl Ulrich Mayer ML, Präsident a.D. der Wissenschaftsgemeinschaft Gottfried Wilhelm Leibniz e.V., Max-Planck-Institut für Bildungsforschung und Yale University
  • Josef Ehmer, Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Universität Wien, Internationales Geisteswissenschaftliches Kolleg Arbeit und Lebenslauf in globalgeschichtlicher Perspektive, Humboldt-Universität zu Berlin
  • Alexia Fürnkranz-Prskawetz ML, Institut für Stochastik und Wirtschaftsmathematik, Technische Universität Wien, Wittgenstein Centre for Demography and Global Human Capital, Univ. Vienna, IIASA, VID/ÖAW
  • Cornel Sieber, Institut für Biomedizin des Alterns, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg
  • Johannes Siegrist, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

Menschliches Altern neu denken

Ursula M. Staudinger veröffentlichte zentrale Erkenntnisse ihrer über 20-jährigen Forschungsarbeit unter dem Titel “The Positive Plasticity of Adult Development: Potential for the 21st Century” in der wissenschaftlichen Fachzeitschrift American Psychologist. Ihr Paradigma der Positiven Plastizität stellt einen wichtigen Schritt zum besseren Verständnis des dynamischen Prozesses der menschlichen Entwicklung dar und bietet Entscheidungshilfen für Sozialpolitik und wirksame Maßnahmen zur Optimierung des Alterns.

Menschen leben länger als jemals zuvor. Die durchschnittliche Lebenserwartung zum Zeitpunkt der Geburt ist seit 1840 um nahezu 40 Jahren gestiegen. “Es ist nicht nur so, dass Menschen länger leben, sie genießen auch mehr gesunde Jahre”, sagt Staudinger. “Natürlich ist das sowohl ein Geschenk wie auch eine Herausforderung für jeden Einzelnen und die Gesellschaft.” Längeres Leben weist darüber hinaus auf ein außergewöhnliches Merkmal des Menschen hin. „Im Gegensatz zu anderen Arten haben wir die Fähigkeit unsere eigene Entwicklung und den Alternsprozess zu verändern“, erklärt Staudinger. Dies geschieht absichtlich oder unbeabsichtigt, zum Guten oder Schlechten und innerhalb natürlicher Grenzen.

Ein neues Modell für menschliches Altern

Bei positiver Plastizität, so definieren es Wissenschaftler der Lebensspanne, geht es um das Potenzial zur Veränderbarkeit als integrales Merkmal der menschlichen Entwicklung. „Es ist wichtig zu verstehen, dass die menschliche Entwicklung und das Altern weder biologisch noch kontextabhängig sind“, sagt Staudinger. „Es ist weitaus komplexer, weil biologische, soziokulturelle Kräfte und das Verhalten einer bestimmten Person Teil davon sind.“

Ein längeres Leben kann Geschenk sowie Herausforderung sein. Foto: © Stephane Juban, Unsplash

Um diesen dynamischen Prozess darzustellen, entwickelte Staudinger ein dreistufiges interaktives Modell der menschlichen Entwicklung und des Alterns, das Plastizität ermöglicht. Es zeigt, dass Entwicklungsverläufe das Ergebnis kontinuierlicher Interaktionen zwischen Organismus (z.B. Organe, Zellen), Kontext (z.B. Institutionen, Umwelt) und Person (z.B. Verhalten, Einstellungen) sind, die das Potenzial für intraindividuelle Variationen schaffen. Das Neue an diesem Modell ist, dass es die Person als aktiven Agenten ihrer eigenen Entwicklung einschließt. Dabei ist dieser dritte „Einflussfaktor“ auf den Alterungsprozess nicht nur eine „entstehende Eigenschaft“ der Wechselwirkung zwischen Biologie und Kontext, sondern muss eigenständig berücksichtigt werden.

Fordere es heraus oder verliere es

Wie kann dann die positive Plastizität des menschlichen Alterns besser genutzt werden? Untersuchungen haben gezeigt, dass eine positive Plastizität während des gesamten Lebens bis ins hohe Alter erhalten bleiben kann, sofern nicht schwere pathologische Prozesse (z.B. Alzheimer-Demenz) stören. „Es gibt deutliche Hinweise darauf, dass die wiederholte Aussetzung gegenüber Neuheiten und Herausforderungen eine positive Plastizität sowohl für die Persönlichkeit als auch für die Wahrnehmung erzeugen können.“

In Zeiten der Bevölkerungsalterung besteht ein wachsender Bedarf mehr über die Bedingungen zu wissen, die eine positive Plastizität der Erwachsenenentwicklung ermöglichen. Dies bedeutet, die Konstellationen soziokultureller und physischer Kontextmerkmale, persönliche Verhaltensmuster sowie deren biologische Ausstattung weiter zu untersuchen, um das Altern für möglichst viele zu optimieren. „Wir müssen jedoch zwischen Gruppen von Menschen unterscheiden, da es kein vielversprechendes Universalkonzept gibt“, betont Staudinger. „Obwohl wir noch einen langen Weg vor uns haben, ermöglichen uns die gewonnenen Erkenntnisse, Schritte in die richtige Richtung zu unternehmen. Und wenn ältere Menschen länger gesünder und unabhängig leben, profitieren alle davon.“

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APA Journals Article Spotlight | Rethinking adult development